Jeden Morgen ein Gelage auf der Mauer - Vasco Sassetti und sein Sinn für's kulinarische Gesamtkunstwerk
Entrückte Stille liegt an diesem klaren Morgen über der kleinen Stadt Castelnuovo dell‘Abate, südlich von Montalcino. Nichts rührt sich, nicht einmal ein Lüftchen. Auf einer hüfthohen Mauer sonnt sich eine Eidechse. Reglos. Doch dann ist es aus mit der Ruhe: Ein Mann naht, beladen mit Käse und Wein, Würsten und Schinken. Die Echse macht sich davon. Der Mann ist Vasco Sassetti, 50 Jahre alt, Winzer, Trattoriabesitzer und ausserdem ein Könner, wenn es gilt, fruchtiges Olivenöl zu pressen, aus Schwein und Wildschwein deftige Delikatessen herzustellen und frischen toskanischen Pecorinokäse perfekt reifen zu lassen. Er ist ein Multitalent, wie man es vielleicht nur noch in der Toskana findet: Bis gut vor dreissig Jahren herrschte hier noch die mezzadria, die Halbpacht. Auf den grossen Gutshöfen, den fattorie, versorgte man sich autark - mit allem, was der Boden der Halbpächter hergab:
Wein, Ö1, Käse, Fleisch, Mehl und Honig, Holz und auch Terrakottaziegel. Die Hälfte sackte natürlich der Grossgrundbesitzer ein, die Bauern bekamen nur ihren Anteil. Vasco Sassettis Eltern haben so noch ihr täglich Brot verdient. Dass er nun von seiner Ernte nichts mehr an einen padrone abgeben muss, verdankt Vasco dem Wandel der Zeit. Aus den meisten kleinen poderi, den Höfen der Pächter von damals, sind Ruinen geworden - oder Weingüter von Stadtneurotikern; oder Ferienhäuser. Der Sassetti-Clan besitzt heute 45 Hektar Land, parzelliert um Montalcino, das meiste davon jedoch ist Mischwald.
Nicht viele Italiener sehen aus wie Vasco: das Haar so aschfarbigen wie seine SechsTage-Bartstoppeln, die Augen nicht wirklich grün, aber auch nicht ganz bernsteinfarben. An den sanften Rachenlauten erkennt man den waschechten Toskaner: Hasa sagt er statt casa, das Kaninchen, coniglio, wird bei ihm zu honiglio. Obgleich dieser Mensch mit seinem Brunello di Montalcino einen überaus eleganten Wein macht, wäre Eitelkeit das letzte, was man ihm nachsagen könnte: Das Hemd, schief geknöpft, hängt ihm aus der löcherigen Hose, an den ausgetretenen braunen Schuhen klebt die Krume seiner Weinberge. Auch wenn er keine Schinken oder Käselaibe schleppt, hält sich Sassetti stets ein wenig geduckt - das hat mit seiner Schüchternheit zu tun. Fast scheint er sich zu wundern, dass sich jemand so für seinen Wein begeistert. Weinpapst Robert Parker hat diesen erstaunlichen Weinbauern bislang ebenso übersehen wie der Gambero rosso, die rote Weinbibel Italiens. Luigi Veronelli allerdings, Italiens Weinguru, wurde unlängst auf die Weine Sassettis aufmerksam. Vielleicht fördert dieser Umstand Vascos inzwischen kecke Preiskalkulation, die sich mit den höchstdotierten Roten der Region allemal messen lassen kann?
Vasco steuert das brüchige Mäuerchen am Ortsrand von Castelnuovo dell‘Abate an. Es ist ein Mäuerchen von ritueller Bedeutung. Es ist Sassettis Frühstückstisch. Wie jeden Morgen gegen halb zehn breitet er einen derben Bogen Packpapier auf den Steinen aus, als Tischtuch. Vasco knurrt vernehmlich der Magen. Was wird es heute zur prima colazione wohl geben?
Ach, nur ein paar Kleinigkeiten, sagt er und tischt auf: eine grosse Korbflasche Rotwein, einen Laib Weissbrot, dazu einen halben Pecorinokäse, ein kiloschweres Stück Pfefferschinken, eine dicke Fenchelsalami und gut drei Pfund Fleischtomaten. Wer soll denn das bloss alles essen? Sassetti bohrt einen Korkenzieher in den Stopfen der Korbflasche und ruft:
Angelino! Terzilio! Luciano! Massimc! Kommt frühstücken! Und bringt die Gläser mit!
Das lassen sich die Männer nicht zweimal sagen. Es treten auf: Der schmale Massimo in langer Schlachter- schürze, der junge Kellermeister Luciano in Gummistiefeln und schliesslich der knopfäugige Terzilio; er ist Sassettis Vetter und zuständig für die Pflege der Pecorinokäse, die im nahen Montalcino mit einem Sassetti-Etikett gehandelt werden. Wo aber bleibt nur Angelino? Schon hören wir ihn kommen, mit klappernden Weingläsern. Es sind nahezu blinde Gläser, die diese Herren in Vascos Weinkeller nach Fassproben oder Frühstücksgelagen zwar sorgsam mit dem Wasserschlauch ausspritzen, aber nie trockenpolieren. Warum auch? Wein ist ja schliesslich zum Trinken und nicht bloss zum Angucken da.
Angelino, um einige Ecken mit Vasco verwandt, ist 75 Jahre alt und propper gerundet wie ein Weinfass. Die mächtige, bläulich-rote Knubbelnase verrät ihn als passionierten Rotweinfreund. Bis zu seiner Rente war Angelino Landarbeiter, beackerte Gemüsefelder, Weinberge und Olivenhaine. Heute geniesst er sein Leben - bei schönem Wetter wie heute am liebsten im Feinrippunterhemd. Mit Angelinos Weinkonsum hat es eine besondere Bewandtnis. Als jungen Burschen brachten ihn die Eltern nach Siena ins Hospital. Weil er so anämisch aussah. Der Doktor verordnete eineinhalb Gläschen Rotwein pro Tag. Aber einer wie Angelino kleckert nicht, er klotzt - schon aus Angst vor den Ärzten: Bis zu zwei, drei Liter, manchmal auch ein wenig mehr, vernünftig über den Tag verteilt, wirken seit mehr als einen halben Jahrhundert wahre Wunder gegen seinen zu bleichen Teint. Sagt Angelino. Und: Ich musste nie wieder in's Hospital! Bedenken wischt er kühn beiseite: Wein ist nur dann ungesund, wenn man zuviel davon trinkt.
Die fünf Männer machen sich über ihr Freiluftfrühstück her; packen sich reihum den Pfefferschinken vor den Bauch und säbeln Scheiben davon herunter, die Schnittrichtung immer zünftig zum Solar plexus hin; brechen das helle Brot; schneiden finocchiona, Fenchelwurst, und Käse daumendick; und lassen den Roten, einen saftigen, jungen Sangiovese, aus der Korbflasche in die Gläser gluckern. Unser Mahl auf offener Strasse verläuft völlig ungestört. Wo sind eigentlich die Einwohner von Castelnuovo dell‘Abate? Früher, vor zwanzig, vielleicht auch dreissig Jahren, da waren wir noch 500. Damals gab es zum Beispiel drei Tischler am Ort, jeder mit gutem Auskommen: Fenster, Weinfässer, Särge, Möbel. Und was ist geblieben? Vasco breitet traurig die Arme aus und zeigt auf sein mittelalterliches Städtchen: 200 Menschen, die meisten sind Alte. Nur einen Handwerker haben wir noch, den Schmied, und der hört auch bald auf. Massimo der Metzger geht wieder an die Arbeit, im laboratorio di carni suini gibt es heute noch allerlei zu verwursten. Sassettis Schweinefleisch-Atelier ist in der einstigen Ölmühle von Castelnuovo untergebracht: ein steinaltes, verwinkeltes Häuschen, ausgerüstet mit modernen Edelstahl-Fleischwölfen. Kühlräumen und temperierten Kammern, wo die verschiedenen Schinken und Würste vor sich hin reifen.
In Sassettis Schatzkammern baumeln auch schlanke Schweinebeine, an denen noch alles dran ist, vom Fuss bis zum dunklen Borstenkleid: prosciutto di cinghiale, Wildschweinschinken. Vom wilden Schwein, zur Hälfte mit normalem Schweinefleisch vermengt, bereiten sie hier auch ein teuflisch scharfes Rohwürstchen zu. Vasco gibt mir mit Unschuldsmiene davon zum Probieren. Und kichert, als mir die Peperoncino Würze heisse Tränen in die Augen treibt.
Bis vor fünfzehn Jahren hat Sassetti seine Schweine noch hier im Ort selbst gemästet, geschlachtet und verarbeitet. Doch damit ist es endgültig vorbei: Zu wenig Platz, zu viele Vorschriften von Bürokraten. Also kauft er heute den Rohstoff und widmet sich mit fünf Mitarbeitern ausschliesslich der Veredelung. Zwei Häuser weiter hat Vasco seinen Weinkeller: Zehn grosse Eichenfässer, das grösste mit 5000 Liter Fassungsvermögen, teilen sich den kleinen Raum, der einmal ein Kälberstall war. Es gibt Weinkeller, die sind übertrieben aufgeräumt und penibel ausgestattet. Dieser hier ist das genaue Gegenteil.
Das findet auch Claudio Gori, der beratende Onologe, der einmal im Monat nach dem Rechten schaut und dann die Hände über dem Kopf zusammenschlägt: Wie sieht es hier bloss aus!? ahmt Vasco den Weintechniker nach und feixt: Aber meinen Wein trinkt er still und andächtig. Überhaupt seien Önologen wie Ärzte: Die braucht man auch nur, wenn man krank ist. In guten Jahren kriege ich guten Wein alleine hin. Nur schwierige Jahrgänge wie 1992 können vom Önologen profitieren. Darum schlägt Sassetti die vielen Empfehlungen seines Beraters fast alle in den Wind und hört lieber auf die eigene Intuition. Glanzstücke wie die kraftvolle 88er Riserva oder die des überaus eleganten Jahrgangs 1990 geben ihm recht. Seine sechs Hektar Weinberge, verteilt auf drei Lagen um Castelnuovo und Montalcino, ergeben knapp 30 000 Flaschen im Jahr. Meint es das Wetter gut, dann kann er bis zu 10 000 davon als Brunello abfüllen, der Rest wird zu Rosso di Montalcino und zu schlichtem Roten für den offenen Ausschank in seiner Trattoria. In weniger guten Jahren reicht es mitunter nur für 2000 bis 3000 Brunello-Abfüllungen, schliesslich gehört da nur das beste Lesegut hinein.
Auch mit dem Barrique, dem 225-Liter-Holzfässchen, macht unser Weinbauer Experimente: Anteile des Rosso di Montalcino schlummern darin - in einem halbverfallenen Häuschen ausserhalb von Castelnuovo. Den verschneidet er schliesslich mit Rosso aus dem Stahltank und lagert das Ergebnis noch ein Jahr im grossen Fass.
Am 1992er Rosso zeigt sich Vascos Können beispielhaft: Obgleich ein eher mickriger Jahrgang, ist ihm ein schöner, fruchtiger Wein mit edler Holznote gelungen. Den 1994er Rosso will er nun sogar gänzlich im Barrique ausbauen -und dann nach seinem Lokal Ii Bassomondo taufen. Bis 1985 gab es die Sassetti-Weine überhaupt nur vom Fass und im offenen Ausschank in seiner Trattoria. Den grössten Teil seiner Trauben hat Vasco seinerzeit noch verkauft, nur kleine Partien vinifizierte er für den Hausgebrauch. Für den 1982er und 1983er erntete er so viel Begeisterung bei den Gästen, dass er mit dem Superjahrgang 1985 seine erste offizielle Flaschenabfüllung (bescheidene 1000 Flaschen) wagte. Damals hat er auch der Enoteca della Fortezza in Montalcino, berühmt für ihr enormes Brunello-Angebot, vom Flaschenerstling offeriert. Doch man lehnte dankend ab. Denn schliesslich: Wer war schon dieser Vasco Sassetti? Dass man seinen Wein bis heute dort nicht kaufen kann, mag den Enoteca-Inhaber inzwischen wurmen, wiederholte Weinbestellungen lassen jedenfalls darauf schliessen. Aber einer wie unser Winzer hat eben auch seinen Stolz.
Seit der Ernte 1993 verkauft Sassetti nun keine Trauben mehr. Das Weinmachen will er nicht mehr den anderen überlassen. Gelernt hat er es noch von seinem babbo, dem Vater Onorato, und dessen Freund Aldo. Aldo, inzwischen 81 Jahre alt, lebt noch, wenn auch sehr zurückgezogen und altersschwach. Wir besuchen ihn und sitzen um seinen Küchentisch. Vasco hat vom 1990er Brunello Riserva eine Flasche abgezapft und schenkt dem Greis davon ein. Der probiert, ganz vorsichtig, nur einen kleinen Schluck. Dann schaut er auf, hebt einen knochigen Zeigefinger und spricht feierlich nur ein leises Wort: Bravo! Anerkennend nickt er Vasco zu und nimmt ein zweites Schlückchen. Könnte sein, dass unser Winzer auf das Lob des greisen Bauern mehr gibt als auf jede Würdigung durch alerte Weinbaufachleute.
Es ist inzwischen kurz vor mittag, und die Glocken der romanischen Pfarrkirche von Castelnuovo dell‘Abate beginnen in die Stille des Ortes zu schlagen. Wie auf Kommando erheben sich Vasco, Terzilio und Angelino von ihren Küchenstühlen: Zeit zum Mittagessen, sagen sie und verabschieden sich beinahe hastig vom alten Aldo. Schon wieder essen?
In der Tat. Und zwar diesmal in der Unterwelt: in der Trattoria del Bassomondo. Das Lokal, rustikal wie seine Inhaber, liegt am Fusse des Hügels von Castelnuovo, nahe der Hauptstrasse. Im 19. Jahrhundert war darin noch eine Poststation untergebracht. Ab 1910 stand das zweigeschossige Gebäude leer, bis 1947, als Vascos Eltern es kauften, zur Trattoria herrichteten und sich in den Zimmern darüber häuslich niederliessen. Giovanna, die Köchin, hat den langen Familientisch gedeckt. Sie ist Vascos Cousine und Terzilios Ehefrau, eigentlich aber die Übermutter von allen. Verteilt hier einen Knuff, da ein paar spielerische Nackenschläge und scheucht uns zu Tisch. Da wären wir also wieder: Massimo der Metzger, Lueiano. der Kellermeister, Vasco der Winzer, Terzilio der Käsemann und Angelino, jener selbstredend immer noch lässig im Feinrippunterhemd.
Giovannas hausgemachte Nudeln kommen dampfend auf den Tisch: typisch toskanische pinci, von Hand zu dünnen Würsten gerollter Nudelteig, heute mit einer herzhaften Fleischsauce. Die Männer essen, als hätten sie schon tagelang gedarbt.
Nach den pinci wuchtet Giovanna fiorentina, mächtige, am Knochen gebratene Steaks vom weissen Val-di-China-Rind, auf den Tisch. Die kiloschweren Portionen erschüttern ausser mir hier natürlich niemanden.
Seinen Brunello schenkt Vasco nicht alle Tage zum Essen aus. Und die, die am Tisch sitzen, haben ohnehin noch die alte Bauernregel verinnerlicht: olio nuovo, pane di un giorno, vino di un anno, das Ö1 von heute, das Brot von gestern, den Wein vom letzten Jahr. Ein vier Jahre lang gereifter Brunello ist in diesen Kategorien ein Festtagswein.
Alle sind darum neugierig: Vasco hat drei seiner Schätze in Karaffen umgefüllt, damit wir vergleichen können - Brunello 1985, Riserva 1988 und 1990. Es wird andächtig am Tisch. Aber die Wangen röten sich zusehends, denn dieser Stoff hat 14 Volumenprozent Alkohol und mehr. Der 85er in herbstlich-reifem Rot mit Düften von Leder, Tabak und Lakritze schmeckt saftig nach reifen, schwarzen Kirschen. Der 88er ist eine wahre Wucht (14,7 Volumenprozent!), in der Nase würzig, mineralisch, am Gaumen mollig und konzentriert wie Trockenfrüchte. Die Krönung allerdings ist der elegante 1990er, ein so guter Jahrgang, dass Vasco sein 8000-Liter-Fass komplett als Riserva abfüllen wird: Wald und Trüffeln in der Nase, auf der Zunge Kirschen und Lakritze und eine zarte Ahnung von Süsse. Vor Februar nächsten Jahres, nach den für eine Riserva üblichen vier Jahren Fassreife und einem Jahr Flaschenreife, ist dieser Göttertrank allerdings noch nicht zu haben - hierzulande dann für arg selbstbewusste 95 Mark pro Flasche.
Vasco und seine Mannen sind selig. Was scheren sie all die vielen Worte, die einen Wein ohnehin nur unzulänglich beschreiben können? Sie glühen vor Behaglichkeit und reichen einen mächtig duftenden, sechs Monate gereiften Pecorino von Hand zu Hand. Iss, iss nur, das schmeckt am besten zu so einem vino! Ja, warum eigentlich nicht? Schliesslich sind es noch Stunden bis zum Abendessen.
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